Manchmal kommt es anders


Krachend flog die schwere Eingangstür auf, und Maggie begann zu bellen.
    Das war eindeutig zu laut, dachte Serafin, sprang die breite Treppe runter und lief über die Wiese  dem Fluss entgegen. Der Rucksack auf ihrem Rücken wippte hin und her, und noch im Laufen hörte sie das Quietschen eines Fensters. Mist!
    „Wo willst du hin?“ Es war die seltsam entrückte Stimme ihrer Mutter.
    „Ich treffe mich mit Mia. Wir wollen Angeln gehen“, rief Serafin und versuchte freundlich zu klingen.
    Hätte ihre Mutter das Haus verlassen, hätte sie gesehen, wie Serafin geradewegs auf eine große Eiche zulief. Doch Ida Wolkenstein verließ das Haus nicht –  zu keiner Zeit.
    Leichtfüßig stieg Serafin eine Wendeltreppe rauf, die sich wie eine große Luftschlange um den Baum wickelte. Auf der Plattform angekommen, band sie ihre schwarzen Locken zum Zopf und zog kräftig an der Schleppleine. Surrend kam der Haltegriff der kleinen Seilbahn auf sie zugefahren. Ursprünglich war die Vorrichtung zum Warentransport zwischen den Ufern gedacht, doch schon ihr Vater nutzte mit seinem Bruder den Luftweg, um schnell über den Fluss zu kommen.
    Serafin ließ das Sicherungsseil achtlos baumeln und hatte sofort Onkel Winrichs mahnende Worte im Ohr: Niemals – aber auch wirklich niemals! – ungesichert über den Fluss zu fahren. Was denn passieren würde, wenn sie trotzdem reinfiele, wollte sie eines Tages von ihm wissen.
    „Dann fischen wir dich raus, wringen dich aus und hängen dich über die Leine“, hatte ihr Onkel gesagt, sich seine Nichte wie ein Bündel nasser Wäsche über die Schulter gelegt und ihr auf den Po geklopft.
    Obwohl sich Serafin längst nicht mehr an die freundliche Ermahnung hielt, dachte sie jedes Mal an die kleine Geschichte, weshalb immer auch eine kleine  Portion Schuldbewusstsein  mit über die Hamme fuhr. Ansonsten gab es flussaufwärts noch die Furt, doch Serafin hatte es eilig, und außerdem war die Fahrt viel aufregender – was der eigentliche Grund war, sich für die Seilbahn zu entscheiden.
    Um mit dem nötigen Schwung die Plattform auf der anderen Seite zu erreichen, ging Serafin ein paar Schritte zurück, lief auf die Kante zu und stieß sich mit beiden Beinen ab.
    Halbherzige Fahrten endeten schon mal etwas unsanft auf dem Waldboden oder direkt am Baum, wie im vergangenen Jahr. Wochenlang musste sie eine Schiene am rechten Arm tragen, der mit einem lauten Knacken unterhalb des Ellenbogens gebrochen war. Seit diesem kleinen Missgeschick war Serafins Mutter noch ängstlicher geworden und Onkel Winrich ein wenig grimmiger.
    Die Plattform kam schnell näher, und mit einem gekonnten Sprung landete Serafin auf dem Holzboden. Eilig lief sie die Treppe runter und bog auf dem schmalen Waldweg ein, der sie an den knorrigsten Moorbewohnern vorbeiführte: Uralte Weiden verknoteten seit Jahrhunderten ihre Äste zu einem dichten Blätterdach, so dicht, dass kaum ein Regentropfen den Boden erreichte.
    Mit federnden Schritten lief Serafin über den weichen Boden, strich am leuchtend grünen Farn entlang und ließ die gurgelnde Hamme hinter sich.
    Sie erreichte die Lichtung, hängte den Rucksack an einen Ast und wartete auf ihre Freundin.
Wo Vipan wohl steckt? Suchend guckte Serafin in den Himmel. Dass sie den Falken nicht sah, hieß nicht, dass er da oben nicht irgendwo herumschwirrte. Seinen wachen Augen entging fast nie etwas, aber auch Vipan konnte nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig sein.
    Als die Schauergeschichten ihrer Eltern noch funktionierten, hatten die Freundinnen aus lauter Furcht immer einen großen Bogen um die Lichtung gemacht. Ein Weg aus Schieferplatten führte von hier aus durch das Teufelsmoor direkt zum Toten See in die verbotene Zone. Auch eine alte Bahnlinie für die Torfloren gab es, doch die Route lag weiter im Norden und versprach nicht den Nervenkitzel des Fußwegs. Glaubte sie den Worten ihres Bruders, dann würde es nicht lange dauern, um zum See zu gelangen. Und der Pfad musste das sein, was Frau Gluck als „urig“ bezeichnen würde.
    Natürlich hatte Serafin ihre Mutter wegen dieser Sache, ihrem unangemeldeten Ausflug, angelogen, aber sie wollte nicht streiten, und sollte der Falke sie in der verbotenen Zone entdecken, würden ihre Eltern sowieso Bescheid wissen. Sie grübelte, ob sie das Richtige taten – doch was sollte schon passieren? Sie waren keine Kinder mehr, auch wenn ihre Eltern das wahrscheinlich anders sahen.
    Das Rascheln des Farns riss Serafin aus ihren Gedanken. Stimmen kamen auf sie zu.
    „Woher weißt du denn, dass sie sich hier versteckt hat?“ Es war Mias kleine Schwester Rona.
Toter See, das warʼs. Serafins Hoffnung, heute noch  in die verbotene Zone zu kommen, schwanden mit jedem Schritt, den die Mädchen nähern kamen.
    Ihre Schwester an der Hand, trat Mia auf die Lichtung. Rona war einen Kopf kleiner und hatte krauses, blondes Haar, das zu einem Zopf geflochten, munter auf ihrer Schulter wippte.
    „Na, was habe ich dir gesagt?“, sagte Mia. „Hier steht sie, die große Versteckerin Serafin Wolkenstein.“
Rona rannte auf sie zu und sprang ihr in die Arme. Gemeinsam fielen sie ins hohe Gras.
Expedition, endgültig abgehakt, dachte Serafin ein bisschen wehmütig und kitzelte dabei die sich windende Rona.
Mia setzte sich zu den beiden ins Gras und seufzte. Sie trug noch immer ihr Kleid vom Morgen und dazu Sandalen mit dünnen Riemchen.
    „Meine Mutter musste noch mal ins Dorf, und ich sollte Rona nicht allein lassen, jetzt, wo es doch überall spukt.“ Sie zwickte ihrer kleinen Schwester in die Seite, die sich mit verschränkten Armen beleidigt wegdrehte.
    „Das war echt unheimlich heute Nacht“, beschwerte sich das kleine Mädchen. „Unser Haus hat ganz doll gewackelt!“
    Rona setzte sich auf Serafins Schoß, blies ihre Wangen auf und pustete mit aller Kraft. Das Geräusch, das sie dabei machte, klang jedoch eher nach einem Uhu im Stimmbruch, als nach den zeternden Naturgewalten, die im Dunkeln über das Moor fegten. Sie mussten lachen.
    Serafin kniff ihre Augen zusammen und flüsterte: „Hm, hm, verstehe, dann machen wir uns jetzt mal besser auf die Suche nach dem Grund, für so viel Wind, ja? Womöglich finden wir einen Knopf zum Ausschalten.“
    „Ich bin zwar klein, aber nicht doof. Es gibt gar keinen Knopf!“ 

Damit rappelte sich Rona auf und rannte los.
    „Wenn ich dich erwische!“ Serafin versuchte sie zu fassen, doch der Griff ging ins Leere.
    „Lauf schon mal zum Haus“, rief Mia ihrer Schwester nach, „aber gehe nicht allein zum Fluss, hörst du?“
    Mit einem langgezogenen Ja verschwand das kleine Mädchen im dichten Farn.
    Mia blickte zum Weg aus Schieferplatten, der so nah und einladend vor ihnen lag.
    „Du kannst auch ohne mich dahin, weißt du? Ich meine, ich wäre nicht sauer oder so.“
    Mit gespielter Verachtung pustete sich Serafin eine Locke aus den Augen und lächelte. So war Mia immer. Sie wusste, was es Serafin bedeutete; dass es natürlich mehr war, als einfach nur an den See zu laufen und wie sehr sie sich auf diesen Tag gefreut hatte.
    „Niemals ohne dich! Entweder gehen wir gemeinsam oder gar nicht. Der Tote See wird morgen auch noch da sein, oder nächste Woche.“
    „Glaubst du wirklich?“, fragte Mia mit übertriebenem Ernst.
    Kichernd gingen die Freundinnen über die Lichtung und schlenderten gemeinsam über den verschlungenen Weg Mias Schwester hinterher.
    In den Wolken, weit über ihren Köpfen, kreiste der Falke und warf seinen wachen Blick auf die Wiesen und Wälder unter sich.